Falsche Kausalitäten: Warum die Nakba historisch keine Folge des Holocaust ist

Kommentar

Die von manchen vorgenommene Gleichsetzung von Nakba und Holocaust ist unangemessen. Solange es aber keine Bereitschaft gibt, die Leiden des anderen anzuerkennen, wird es keine Lösung des Konflikts geben.

Blick auf den Tempelberg in der Altstadt von Jerusalem, einschließlich der Klagemauer und des goldenen Felsendoms
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Blick auf den Tempelberg in der Altstadt von Jerusalem, einschließlich der Klagemauer und des goldenen Felsendoms.

Im palästinensischen Narrativen finden sich Kausalitäten, die durch ständige Wiederholung nicht unbedingt richtiger werden. So heißt es etwa, dass das palästinensische Volk die Zeche für die Verbrechen der Nationalsozialisten und anderer europäischer Antisemiten zahlt. Mit anderen Worten: Hätte es die Shoah nicht gegeben, wäre es nicht zur Nakba gekommen, der Vertreibung und Flucht von rund 750.000 Palästinensern während des sogenannten „Unabhängigkeitskrieges“ 1948, wie die Israelis ihn nennen. Innerhalb dieses Denkmusters heißt es dann auch, die Nakba sei eine direkte Folge des Holocaust. Und sogar das hört man häufiger: dass Nakba und Holocaust gleichgestellt zu betrachten sind.

Wer dies behauptet, blendet wissentlich oder unwissentlich die Geschichte des Zionismus und Palästinas bis mindestens 1945 aus, also bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Die zionistische Bewegung, die im 19. Jahrhundert ihren Ursprung hatte, war durchaus eine Reaktion auf den Antisemitismus in Europa, in dem die Juden für sich keine Zukunft mehr sahen. Gleichzeitig war der Zionismus aber auch eine Revolution „nach innen“, indem er das jahrtausendealte jüdische Volk wieder zu einer Nation im eigenen Land machen wollte, im Land der Vorväter, wo sich Sprache, Glauben und Kultur des Judentums entwickelten und das jüdische Volk in seiner Identität prägten. Der frühe Zionismus war zugleich ein Angebot an viele Juden, die die Ghettomauern und damit auch das enge Leben des orthodoxen Judentums hinter sich gelassen hatten, eine jüdische Identität jenseits der Halacha, jenseits des Religionsgesetzes zu finden. Die „Rückkehr nach Zion“ war die säkulare Weiterentwicklung der Erwartung frommer Juden, dass der Messias in der Ära der Erlösung kommen und das jüdische Volk im Land Israel versammeln werde. 

Trotz vieler Widerstände, vor allem unter frommen Juden, gewann der Zionismus rasch Anhänger und sogar nichtjüdische Befürworter. Als die Briten im Ersten Weltkrieg Palästina eroberten und damit dort die Herrschaft der Osmanen beendeten, versprach der britische Außenminister Lord Arthur Balfour den Juden bereits 1917, dass das jüdische Volk in Palästina eine „nationale Heimstätte“ erhalten solle.  Zu diesem Zeitpunkt gab es offiziell noch kein palästinensisches Volk. Die Menschen in der Region waren bis zum Ersten Weltkrieg einfach nur „Subjekte“ der Hohen Pforte. Als das Osmanische Reich zerfiel, gab es keinen Rechtsnachfolger, der einen Besitzanspruch auf Palästina im Sinne des modernen Völkerrechts hätte stellen können, auch nicht die Türkei, schon gar nicht die Palästinenser. Der Völkerbund, die Vorläuferorganisation der heutigen UNO, beauftragte die Briten als Mandatsmacht mit der Verwaltung Palästinas. In der Präambel des Völkerbundsmandats wurde unter anderem festgehalten, dass die Briten den Juden tatsächlich helfen sollten, ihre nationale Heimstätte zu errichten, wenngleich unter Berücksichtigung der Interessen aller anderen Gruppen und Ethnien, die im Mandatsgebiet lebten. Der Rest ist Geschichte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Zionisten regulär Land in Palästina aufgekauft, diese Politik verfolgten sie konsequent weiter. Es kam zu immer neuen Einwanderungswellen - lange vor der Shoah. Gleichzeitig nahmen die Spannungen zwischen Arabern und Juden zu, es kam zu Gewalt, Überfällen und Angriffen auf beiden Seiten. Die Briten spielten dabei keine unwesentliche Rolle. Sie verstanden unter der „nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ keinen Staat, die Zionisten aber schon. Gleichzeitig aber hatten die Briten auch den Arabern einen Staat von Palästina bis zum Persischen Golf versprochen und das schon 1915, und zwar durch Lord Henry MacMahon gegenüber dem Großscherif von Mekka, Hussein Bin Ali, zugesagt. Dieser Staat sollte nach der Niederlage des Osmanischen Reiches entstehen. Der arabisch-israelische Konflikt ist also auch die Folge einer zweideutigen, inkonsequenten und heuchlerischen Politik des Empires.

Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung nahmen während der Mandatszeit zu und führten 1947 schließlich zum UN-Teilungsplan für Palästina. Die Zionisten nahmen ihn an, die Araber lehnten ihn ab. Es kam zum ersten großen Krieg zwischen Israel und mehreren arabischen Armeen, die den jüdischen Staat gleich nach seiner Proklamation 1948 angriffen. Eine Folge dieses Krieges: die Vertreibung und Flucht von rund 750.000 Palästinensern. 

Egal, wie man diesen Konflikt zwischen beiden Völkern bewerten will oder welche Position man politisch einnimmt, es ist offensichtlich, dass die Nakba keine Folge der Judenvernichtung in Europa ist. Die Entwicklungen in der Levante mögen durch den Holocaust beschleunigt worden sein, weil immer mehr europäische Juden nach Palästina auswanderten, weil die internationale Staatengemeinschaft nach Auschwitz begriffen hatte, dass das jüdische Volk einen eigenen Staat brauchte, um zu überleben. Dennoch stimmt die oben genannte konstruierte Kausalität in palästinensischen Narrativen nicht, da sie zudem und oft intentional die jahrtausend alte Verbindung des jüdischen Volkes zu Israel ebenso beiseiteschiebt wie die Tatsache, dass in Palästina immer auch Juden lebten. 

Extrem problematisch ist die von manchen vorgenommene Gleichsetzung von Nakba und Holocaust. Der Holocaust war die industrialisierte, willkürliche Vernichtung des jüdischen Volkes, ein Genozid. Hitlers eliminatorischer Antisemitismus basierte auf seiner Lügenpropaganda, dass das deutsche Volk, ja, die ganze Welt von den Juden bedroht sei, die er mit Ratten und Ungeziefer gleichsetzte. Deshalb müsse man dieses Volk zur Gänze ausrotten. Die Nakba hingegen war das Ergebnis eines politischen und militärischen Konflikts zwischen zwei Völkern, die ihren Anspruch auf dasselbe Territorium durchsetzen wollten. Die arabische Seite verlor, die Zionisten gewannen. Kam es im Zuge der Nakba auch zu Morden von Zionisten an der palästinensischen Bevölkerung? Die Frage ist eindeutig mit Ja zu beantworten. Aber im Gegensatz zur Shoah hatten die Ereignisse der Nakba nichts mit einer systematischen Ausrottung eines ganzen Volkes oder gar einer beabsichtigten industriellen Vernichtung zu tun. Dass von Anfang an im jüdischen Staat auch palästinensische Araber blieben und unter der Flagge mit dem Davidstern lebten, unterstreicht dies deutlich, unabhängig davon, dass sie bis 1966 unter Militärrecht standen, obwohl sie Staatsbürger waren. 

Interessanter und nicht unwichtig ist die Frage nach der emotionalen Gleichsetzung von Nakba und Holocaust. Auch wenn die beiden Ereignisse, wie gerade skizziert, nicht miteinander vergleichbar sind, erst recht nicht, wenn es um die Opferzahlen geht, so sind doch beide Ereignisse für beide Völker zu einem Teil ihrer kollektiven Grunderfahrung einer Katastrophe geworden.

Aber mehr noch, für die Juden, die den Holocaust durchleben mussten und Familienangehörige verloren hatten, war dieses Schreckenserlebnis „hundertprozentig“. Für einen vertriebenen Palästinenser, der vielleicht auch einen Teil seiner Familie verloren hatte, war das Leidenserlebnis der Nakba ebenso „hundertprozentig“. In diesem Sinne stehen sich im palästinensisch-israelischen Konflikt bis heute zwei zutiefst traumatisierte Völker gegenüber, die ihre Traumata in immer neuen Runden der Gewalt wieder durchleben, so auch jetzt im aktuellen Krieg. Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat bei den jüdischen Israelis, aber auch bei Juden im Ausland kollektive Erinnerungen und Ängste an und vor Pogromen und den Konzentrations- und Vernichtungslagern des NS-Regimes ausgelöst. Bei den Palästinensern ist ähnliches zu beobachten. Der Krieg und die Fluchtbewegungen innerhalb Gazas werden von Palästinensern, egal wo sie sind, als „zweite Nakba“ erlebt und führen auch bei ihnen zur Aktivierung kollektiver Schreckensbilder und Erinnerungen.

Als Folge dieser Erfahrungen besteht jede Seite seit Jahrzehnten darauf, das größere Opfer zu sein. Auch dies trägt zur Tragödie des palästinensisch-israelischen Konflikts bei. Solange es keine Bereitschaft gibt, die Leiden des anderen zu sehen und anzuerkennen, wird es keine Lösung für den Konflikt geben können. Objektiv besteht kein Zweifel daran, dass die Shoah ein singuläres Menschheitsverbrechen ist, und größer als jedes andere. Aber das subjektive Erleben von Leid, Verfolgung und Katastrophen entzieht sich jeder Objektivierung und ist grundsätzlich unantastbar.


Dieser Gastbeitrag erscheint im Rahmen einer Artikelserie, die verschiedene Stimmen zu den Debatten nach dem Terroranschlag auf Israel am 7. Oktober in Deutschland widerspiegelt. Wie alle Beiträge des geplanten Dossiers gibt er nur die Position der Autorin wieder.
Mit dieser Serie wollen wir in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung vielfältige Sichtweisen und auch schmerzhafte Erfahrungen abbilden, um Brücken zu bauen. Dazu gehören auch umstrittene Perspektiven, für die wir Raum zur kritischen Auseinandersetzung bieten wollen.
Auch an anderer Stelle tragen wir mit vielfältigen Beiträgen zu einem wertebasierten Diskurs zu dieser Thematik bei, unter anderem im Dossier zu Antisemitismus in Deutschland und in den Beiträgen unseres Referats Mittlerer Osten und Nordafrika.